Auf der Suche nach dem kopflosen Reiter vom Mauenseer Moor
In den Schweizer Gemeinden existieren viele Sagen. Der Ruswiler Kurt Lussi spezialisierte sich auf die Sagen unserer Region. Im Gespräch erklärt er, wie diese entstanden sind und welche Bedeutung sie haben.
Kurt Lussi, Sie haben vor längerer Zeit Nachforschungen zu Sagen aus Mauensee angestellt. Dabei sind die auf die Erzählung vom kopflosen Reiter gestossen (siehe Kasten). Wie sind Sie vorgegangen?
Erzählungen wie in Mauensee gibt es überall wo es Moore hat. Auch schwarze Hunde gibt es an vielen Orten, man muss nur danach suchen. Phänomenen wie diesem spüre ich seit über 30 Jahren nach. Man kennt mich, und so erzählen mir Menschen Geschichten, die sie selbst erlebt oder gehört haben. Oft überschneiden sich ihre Erlebnisse mit anderen Geschichten oder Dingen, die man aus Büchern kennt. Ich bin ihnen über Jahre hinweg nachgegangen und habe nach den Ursachen ihrer Entstehung gesucht.
Wie kommt es, dass viele Orte dieselben Sagen haben?
Das hat damit zu tun, dass man das Unfassbare fassbar machen will. Jeder kennt das aus dem eigenen Leben. Eine Gefahr, deren Ursache man nicht kennt, wirkt unruhig. Da ist man zum Beispiel alleine Zuhause und hört Geräusche, die man nicht zuordnen kann. Vielleicht haben diese natürliche Ursachen. Man weiss es nicht. Man behalf sich, indem man das Unfassbare benannte: Beispielsweise der Onkel, der seine Ruhe nicht findet. Dadurch wird das Unfassbare personifiziert. Wenn es personifiziert ist, können wir etwas dagegen unternehmen. Früher waren das Gebete oder Wallfahrten. Das Phänomen, nach Erklärungen zu suchen, gibt es überall. Und die Erklärungen gleichen sich fast immer. Das ist eine Form von Selbstschutz und eine Art, mit unbekannten Phänomenen umzugehen.
Haben Sie das selber so erlebt?
Ja. Ich habe lange Zeit in einem alten Haus gewohnt, das 1903 gebaut wurde. Bei starkem Westwind, war es voller Geräusche. Bis hin, dass man gedacht hat, man vernehme Stimmen, wenn der Wind durchs Gebälk blies. War der Wind besonders heftig, ertönten Pfeifgeräusche. Früher sagte man: das seien die armen Seelen auf ihrem Weg ins Jenseits.
Dienten solche Sagen auch als Erziehungsmassnahme? Als Schauergeschichten, die man den Kindern erzählt, damit diese gehorchen?
Eher weniger, weil die Menschen Respekt hatten vor diesen Dingen. Das ist heute noch so. Den Menschen widerfahren Erlebnisse, die sie nicht erklären können und mit denen dann folglich auch nicht zu spassen ist. Man will ja nichts heraufbeschwören.
Wie viel haben Sagen mit Aberglauben zu tun?
Als Volkskundler gibt es den Begriff «Aberglauben» nicht, denn das Wort «Aberglaube» hat eine negative Wertung. Seine Bedeutung hängt von der Sichtweise einer Person ab. Beispielsweise werden im Katholizismus Reliquien – das sind Überreste von Heiligen – verehrt. Für Reformierte ist dies wohl Aberglaube. Aber im Katholizismus haben sich kirchliche Dogmen und vorchristlicher Glauben zu einem neuen Ganzen vermischt, dem Volksglauben.
Was versteht man unter Volksglaube?
Volksglaube besteht aus einem dogmatisch christlichen Gerüst. In der von der Kirche verkündeten Glaubenslehre sind viele Elemente einbezogen, die christlich umgedeutet wurden. Ein Beispiel ist der St. Nikolaus. Die Gestalt hat einen heidnischen Ursprung, ist aber christlich umgedeutet worden. In ihr manifestiert sich der Türst. Der Türst wiederum ist mit Wodan identisch, der den Totenzug anführt. Wodan richtet die Leute. Bewertet gute und schlechte Taten. So wie es der Samichlaus heute tut.
Welches ist die skurrilste Sage, die Ihnen zu Ohren gekommen ist?
Sagen sind fast immer skurril, denn ihre Inhalte beziehen sich nicht auf diese Welt. So haben die Vorstellungen vom Auftreten des Türst mit der Trennung von Körper und Seele im Augenblick des Todes zu tun. Nach dem Volksglauben löst sich die Seele vom Körper als subtiler Windhauch, der oft als kalter Luftzug wahrgenommen wird. Die einzelnen Winde formen sich zu einem Sturm, den man mit heftigem Westwind assoziiert. Dieser Sturm, der Türst oder Wilde Jagd genannt wird, interpretiert man als Zug der namenlosen Toten, die ins Jenseits reisen.
Diese Erzählung kennen wir von der Fasnacht ...
Richtig. Dort kommen weitere Gestalten aus der Sagenwelt dazu. Da ist zum einen die Sträggele. Das ist ein Totendämon, der die Aufgabe hat, die umherziehenden Seelen in den Totenzug einzugliedern. Zum andern sind es schwarze Hunde, die dem Zug vorauseilen und rufen: «Us em Wäg!» Es heisst, man soll dem Türst nicht im Weg stehen, sonst wird man krank.
Gibt es bestimmte Orte, an denen sich Sagen typischerweise abspielen?
Kreuzwege oder Weggabelungen sind typisch. Auch Orte, wo Spezielles vorgefallen ist. Ein Suizid oder ein Unfall beispielsweise, bei dem eine Person vorzeitig ums Leben kam. Nach christlicher Auffassung ist die Länge des menschlichen Lebens vorbestimmt. Vorzeitiger Tod und damit nicht erfülltes Leben wirken unruhig. Man glaubte, dass die Seele eines Menschen noch umgehen muss bis zur Erfüllung des von Gott vorbestimmten Lebens. Auch verlassene Häuser gelten als Orte, wo sich Geistwesen einnisten. Alte verwunschene Strassen, die man nicht mehr begeht, die aber noch existieren. Oder von Hecken gesäumte Strassen. Die Vorstellung ist, dass sich an diesen Orten Hexen, Dämonen und Totengeister aufhalten.
Es gibt Menschen, die aufgrund rätselhafter Ereignisse davon überzeugt sind, dass in ihrem Haus ein Geist wohne ...
Das hat damit zu tun, dass sich Energien mit dem Umfeld verbinden. Der Mensch besteht aus Energie. Wenn er stirbt, ist der Körper tot, die Energie aber ist noch da. Ein Beispiel dafür sind Sterne. Explodiert ein Stern Milliarden von Lichtjahren entfernt, kann das Milliarden von Lichtjahren dauern bis das Licht des Sternes auf der Erde ankommt, obschon der Stern in der Zwischenzeit erloschen ist. Die Vorstellung ist, dass Energien losgelöst von der Energiequelle weiter existieren. Das kennt man aus dem eigenen Leben. Es gibt Orte, an denen fühlt man sich immer wohl. Und es gibt Orte, mit denen einfach etwas nicht stimmt. Das hat mit diesen Energien zu tun.
Welchen Wert haben Sagen in der heutigen Zeit?
Sie sind präsenter als man denkt. Der Grund ist der, dass wir uns in einer aufgeklärten Zeit befinden. Es ist alles machbar, alles erklärbar. Aber der Mensch hat Sehnsucht nach dem Unerklärbaren. Nach Geheimnissen. Die Sagen bieten die Möglichkeit für das Geheimnisvolle. Im Anschluss an meine Vorträge melden sich regelmässig Skeptiker zu Wort. Das ist gut so. Doch oft kommen sie im Anschluss zu mir und erzählen von ihren eigenen Erfahrungen. Dies deute ich so, dass das Bedürfnis nach dem Unerklärbaren da ist. Aber man gibt es nicht zu. Man könnte ja als abergläubisch bezeichnet werden.
Besteht die Möglichkeit, dass wir für die Zukunft neue Sagen schaffen?
Ich denke schon. Jede Sage enthält ein Körnchen Wahrheit. Dass ist das, was sie von einem Märchen unterscheidet. Eine Sage ist in der Regel an einen Ort gebunden, und es gibt eine zeitliche Einordnung. Auslöser ist meist ein Ereignis, das die Menschen nicht erklären können. Also suchen sie nach einer Ursache für das Unfassbare. Am Anfang ist dies vielleicht eine Erklärung für ein reales Geschehnis. Später kommen Elemente von anderen Erzählungen hinzu. Aus dem Geschehnis wird so eine Erzählung, die zwar noch an Ort und Zeit gebunden ist, sich aber mit der Zeit verselbstständigt.
Der kopflose Reiter vom Mauensee
Es geschah in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Ein Mauenseer – damals noch ein Knabe – erinnerte sich an dieses Erlebnis. Mit seinen Geschwistern sass er in der Stube, als sie der Geschichte über den kopflosen Reiter vom Ried lauschten. Und tatsächlich erblickte eines der Kinder durchs Fenster ein Licht durch den Nebel schimmern. Das sei doch alles Aberglaube, dachte der Knabe. Beim Hinausgehen griff er sich die Pistole seines Vaters und lief in Richtung Ried. Augenblicklich umhüllte ihn der Nebel. Auf sich gestellt, verlor er den Mut. Er machte sich auf den Rückweg, als er einen Schatten auf sich zukommen sah. Zu Tode erschrocken betätigte er den Abzug der Pistole. Statt eines Schusses hörte er, wie die Patrone ausgeworfen wurde und zu Boden fiel. Der Schatten wurde grösser. Voller Panik drehte er sich um und rannte zurück zum Haus seiner Eltern. |
Mythisches, Magisches und Makabres
Am 8. Dezember erschien Kurt Lussis neustes Buch «Mythisches, Magisches, Makabres – Das Leben, der Tod und die Welt der Geister». Dabei handelt es sich um eine Zusammenfassung seiner in den letzten 30 Jahren publizierten Fachartikel. Wie der Titel bereits verrät, berichtet der Autor über Mythisches aus dem Geisterreich, Magisches aus seinen Forschungen in Ostafrika und Louisiana sowie Makabres zum Thema Scheintod und Vampire. Herausgegeben wird das Buch vom Historischen Museum Luzern, für das Kurt Lussi 19 Jahre bis zu seiner Pension am 30. Juni tätig gewesen war. |