07.06.2020

Eine Heimat auf Zeit im Zweiten Weltkrieg

von Salome Erni

Vor 80 Jahren marschierten 44’500 fremde Soldaten über die schweizerische Grenze – doch sie waren nicht die Einzigen, die als Internierte Zuflucht fanden. Das schweizerische Internierten- und Flüchtlingswesen im Zweiten Weltkrieg lässt den Neuenkircher Christian Stachon seit Jahren nicht mehr los. Sein Vater gehörte zu den polnischen Internierten. 

Bei den militärischen Einheiten, die am 19. Juni 1940 in der Schweiz Schutz suchten und dann interniert wurden, handelte es sich um Soldaten des 45. Französischen Armeekorps und der 2. Polnischen Schützendivision. Bei Belfort, nahe der Schweizer Grenze, wurden sie von der Deutschen Armee bedrängt, nachdem diese in Frankreich einmarschiert war. Die französischen und polnischen Streitkräfte waren unterlegen; es drohten Tod oder Deutsche Gefangenschaft. Um einem solchen Fiasko zu entkommen, ersuchte die militärische Führung die neutrale Schweiz um Internierung. Diese wurde ihnen gewährt und sie überschritten die Grenze bei Goumois im Kanton Jura. Dann musste das fremde Militär die Waffen abgeben.

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Christian Stachon aus Neuenkirch, der sich bereits seit Jahren mit dem Internierungswesen der Schweiz im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzt, weiss zu berichten, dass die Schweiz von den Nationalsozialisten unter Druck gesetzt worden sei. Schlussendlich habe man die Waffen an Deutschland – den Feind der Polen und Franzosen – übergeben.

Polen blieben mehrere Jahre

Auch Christian Stachons Vater gehörte als Gefreiter zu jenen polnischen Soldaten, die an diesem Tag die Schweiz betraten. Als sich die aussichtslose Lage des polnischen Militärs nach dem Angriff Polens durch Hitler-Deutschland und die Sowjetunion im September 1939 abzeichnete, floh ein Teil der polnischen Armee im Winter 1939/1940 nach Frankreich und England. Dort wurde eine Exilarmee aufgestellt mit der Absicht, die Alliierten zu unterstützen und somit Polen schlussendlich zu befreien. Für die 2. Polnische Schützendivision endete der Kriegseinsatz jedoch mit einem fünfjährigen Aufenthalt in der Schweiz. Sämtliche polnischen Soldaten verbrachten die Zeit bis zum Ende des Krieges in der neutralen Schweiz, währenddem die Franzosen nach dem Waffenstillstand mit Deutschland bereits im Januar 1941 repatriiert wurden.

Auch Deutsche fanden Zuflucht

Laut Christian Stachon wurden neben Franzosen und Polen im Laufe des Krieges Angehörige vieler Nationen interniert, darunter 1943 rund 20’000 Italiener und 1945 viele Deutsche, die dem Militäraufgebot nicht nachkamen oder die Armee verliessen. Bis zum Ende des Krieges fanden mehr als 105’000 Militärangehörige, Dienstverweigerer, Kriegsgefangene und 193’000 Zivilpersonen Zuflucht. «Eine grosse Zahl, berücksichtigt man die bloss 4,3 Millionen Einwohner der Schweiz», betont Stachon. Auch wenn der Grossteil der Internierten die Schweiz nach dem Ende des Kriegs verlassen musste oder konnte, wurden Kontakte weiter gepflegt. Wie Christian Stachons Vater heirateten einige der Internierten Schweizerinnen oder besuchten ihre Schweizer Bekannten über Jahre hinweg.

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Interniertenarbeit entlastete

Das Internierungswesen war dezentral organisiert und so fanden sich auch im Bereich des Oberen Sempachersees Internierungslager. Etwa 90 Prozent der Internierten seien einer Arbeit ausserhalb des Lagers nachgegangen, weiss Stachon zu berichten. Sie leisteten viele Arbeitsstunden auf Bauernhöfen, in einem Stahlwerk, beim Strassenbau, bei den vielen Waldrodungen oder bei Entwässerungsarbeiten. Da viele Schweizer längere Zeit Aktivdienst leisten mussten, hätten laut Stachon diese Einsätze viel zur Entlastung der Bevölkerung beigetragen und seien geschätzt worden.

Bei den Internierten in der Region der Sempacher Woche handelte es sich primär um deutsche Deserteure und Deutsche, die dem Militäraufgebot der Nationalsozialisten keine Folge leisteten (Refraktäre): Als sich in den Jahren 1944 und 1945 die Niederlage Deutschlands abzuzeichnen begann, entschieden sich viele in die sichere Schweiz zu fliehen und nicht in der nationalsozialistischen Armee zu kämpfen. Christian Stachon fügt an, dass diese Deutschen in der Schweizer Bevölkerung auf weniger Sympathie stiessen als ihre Kollegen und unter der ständigen Kontrolle des Nachrichten- und Sicherheitsdienstes der Schweizer Armee standen. Deshalb seien auch kaum Fotografien von deutschen Internierten erhalten.

Suche nach Informationen

Daten aus über 110 Gemeinden hat der heute pensionierte, 73-jährige Christian Stachon in den letzten sechs Jahren gesammelt. Sein Computer ist eine Schatzkiste an Rapporten, Personalkarten, Berichten, Briefen, Fotografien und Filmen. 120 Male habe er das Bundesarchiv in Bern besucht und bereits 5200 Stunden für seine Forschungsarbeit investiert. Frei nehme er sich nur am Sonntag, meint der vielbeschäftigte Pensionierte mit einem verschmitzten Lächeln. 

Trotz Christian Stachons grosser Datenbank schlummern noch viele Informationen über das Flüchtlings- und Interniertenwesen. Er ist auf der Suche nach Augenzeugen, Nachkommen und allen Personen, die mit einem noch so kleinen Beitrag helfen, dem Internierten- und Flüchtlings-Puzzle ein weiteres Stück hinzuzufügen. Stachon erzählt: «Vor kurzer Zeit kontaktiere mich ein Landwirt, an dessen Scheune ein internierter französischer Elsässer seine Adresse hingekritzelt hat. Nach einem Besuch im Bundesarchiv konnte ich ihm – zu seiner grossen Freude – ein ganzes Dossier übergeben, unter anderem auch ein Passfoto und den fast 80-jährigen Arbeitsvertrag mit dem damaligen Landwirt». Und so sei Stachon über alle Hinweise froh, auch wenn sie eine «Randnotiz» scheinen mögen oder bloss aus dem Foto eines unbekannten Internierten bestehen.

Den Schweizer Leistungen gedenken

Doch was motiviert Christian Stachon, sich so intensiv mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Geschehnissen auseinanderzusetzen? «Die Schweiz wurde oft als ,heile Insel‘ dargestellt. Dabei vergass man, dass der Krieg für die Bevölkerung eine sehr schwere Zeit darstellte und es zu einigen tausend Grenzverletzungen durch Militärflugzeuge und mehrere Bombardierungen grosser Schweizer Städte kam», erzählt Stachon. Obwohl viele Historiker dies als Lappalien hingenommen hätten, sei es nicht selbstverständlich, dass die Schweiz in dieser schweren Zeit den 295’000 internierten Soldaten und Zivilflüchtlingen Unterkunft, Essen, Ausbildung und kulturelle Betätigungen ermöglicht habe.

Als Sohn eines Internierten ist es Stachon ein wichtiges Anliegen, seinen Beitrag dazu beizusteuern, dass diese Leistungen nicht in Vergessenheit geraten. Damit auch die breite Öffentlichkeit davon erfährt, hat Stachon vor zwei Jahren eine Ausstellung in Obwalden durchgeführt. Momentan ist er intensiv mit der Planung einer Ausstellung im Kanton Luzern beschäftigt – und hofft, dass er seine grosse Sammlung an Dokumenten, Fotos und Filmen mit vielen weiteren Informationen aus der Bevölkerung bereichern kann (siehe Kasten).

Info

Aufruf

Christian Stachon plant eine regionale Ausstellung zum schweizerischen Internierten- und Flüchtlingswesen während des 2. Weltkriegs. Wer Erinnerungen, Fotos oder Gegenstände besitzt, welche aus der Interniertenzeit stammen, wird gebeten, sich bei Christian Stachon zu melden und mitzuhelfen, dem Geschichts-Puzzle weitere Teile beizufügen: 


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