Im Frühling wurden aufgrund der Corona-Pandemie sämtliche nicht zwingenden operativen Eingriffe gestrichen. Derzeit werden diese nachgeholt. (Foto KEYSTONE)
Im Frühling wurden aufgrund der Corona-Pandemie sämtliche nicht zwingenden operativen Eingriffe gestrichen. Derzeit werden diese nachgeholt. (Foto KEYSTONE)
23.09.2020

Pflege: Nach der Euphorie kehrte der Alltag ein

von Livia Kurmann

Der Pflegeberuf verzeichnet nach wie vor einen grossen Fachkräftemangel. Der indirekte Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative soll das Problem lösen. Derzeit wird im Parlament noch darüber diskutiert.

Knapp fünf Monate nach Ende des Lockdowns sind die meisten Akutspitäler des Kantons Luzern wieder zum normalen Alltag zurückgekehrt – abgesehen von den noch immer gültigen Schutzmassnahmen. Liridona Dizdari, Vize-Präsidentin des Berufsverbands für Pflegepersonen Zentralschweiz (SBK) und Stationsleiterin im SPZ Nottwil, erzählt von der momentanen Lage der Pflegenden. «Der Lockdown hat einiges mit sich gebracht. Die operativen Eingriffe, die im Frühling notwendig, aber nicht möglich waren, werden derzeit nachgeholt», sagt sie. Von Pflegenden aus verschiedenen Betrieben höre sie, dass momentan eine rechte Zunahme an Patienten wahrzunehmen sei.

«Zuerst waren alle euphorisch und haben applaudiert. Jetzt hört man nicht mehr viel davon in den Medien»
Liridona Dizdari, Vize-Präsidentin SBK Zentralschweiz und Stationsleitung im SPZ Nottwil

Auf die Frage, ob sich seit dem Lockdown etwas geändert habe für die Pflege, antwortet Dizdari: «Zuerst waren alle euphorisch und haben applaudiert. Jetzt hört man nicht mehr viel davon in den Medien. Es gibt sogar Stimmen, die sagen, die Pflege habe ja teilweise auch weniger gearbeitet aufgrund der Kurzarbeit.» Für diese Aussage hat die gebürtige Wauwilerin kein Verständnis. «Wir können von Glück reden, dass es uns nicht so schlimm getroffen hat wie Italien. Es gab durchaus Pflegefachpersonen, die aufgrund von fehlendem Schutzmaterial und Testmöglichkeiten bei der Arbeit nie sicher waren, ob sie allenfalls ihre eigenen Angehörigen zuhause anstecken könnten.» Was die Corona-Pandemie ohne Zweifel erreicht habe, sei die Bedürfnisse der Pflegenden wieder mehr in den Blick der Öffentlichkeit zu rücken.

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Die gebürtige Wauwilerin Liridona Dizdari arbeitet als  (Foto ZVG)

Der lange Weg der Pflegeinitiative 

Vor knapp drei Jahren reichte das SBK-Initiativkomitee die Volksinitiative «Für eine starke Pflege» ein. In nur acht Monaten sammelten die Verantwortlichen 120’000 Unterschriften. Gefordert wurden von Bund und Kantonen, die Pflege als wichtigen Bestandteil der Gesundheitsversorgung zu fördern und für eine Pflege von hoher Qualität zu sorgen. Das heisst unter anderem, genügend Personal für den zunehmenden Bedarf auszubilden, anforderungsgerechte Arbeitsbedingungen zu schaffen und Möglichkeiten für die berufliche Weiterentwicklung zu bieten.

Im März 2018 lehnte der Bundesrat die Pflegeinitiative ohne Gegenvorschlag ab. Er beauftragte das Bundesamt für Gesundheit und das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation, einen Massnahmenplan für die Anliegen der Initiative zu erarbeiten, jedoch ohne finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Daraufhin traten der Berufsverband der Pflegefachpersonen (SBK) und der Verband der Schweizer Ärzte aus der Arbeitsgruppe aus.

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Bis zu 65’000 fehlen

2019 entstand der indirekte Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative. Dieser nimmt zwei Anliegen der Pflegeinitiative auf. Zum einen soll der Mangel an Pflegepersonal – bis 2030 fehlen der Schweiz rund 65’000 Pflegende – behoben werden. Mit Ausbildungsbeiträgen in Höhe von 469 Millionen Franken soll der Bund zukünftig in angehende diplomierte Pflegefachpersonen HF und FH investieren.

Zum anderen soll das Pflegepersonal mit mehr Kompetenzen ausgestattet werden. Pflegefachpersonen sollen Pflegeleistungen direkt mit den Krankenversicherungen abrechnen können, ohne ärztliche Verordnung. Ein Beispiel: Eine Pflegefachperson der Spitex macht beim ersten Patientenbesuch eine Bedarfsabklärung. Sie schätzt ein, wie viel Pflege er braucht. Danach muss die Pflege die Unterschrift des Arztes einholen. Alleine die Unterschrift des Arztes kostet ungefähr 15 Franken. «Dieses Geld könnte man einsparen», so Dizdari.

«Wir würden jemandem nicht mehr Pflege aufschwatzen, als es braucht. Wir haben genug zu tun.»
Liridona Dizdari

Die Forderung sorgt für gespaltene Meinungen. Der grösste Kritikpunkt: Die Verantwortung den Pflegenden zu übertragen, könnte zu höheren Kosten für die obligatorische Krankenversicherung führen. Dizdari stimmt dem nicht zu. «Man hat die Befürchtung, dass wir mehr Pflegeleistungen berechnen würden. Aber Ziel der Pflege ist, den Patienten möglichst zur Selbstständigkeit im Umgang mit seiner Krankheit zu bringen. Wir würden jemandem nicht mehr Pflege aufschwatzen, als es braucht. Wir haben genug zu tun.» Im Gegenteil, eine gut ausgebildete Pflege könne helfen, Kosten zu sparen. Denn nahe am Patienten könnten sie allfällige Probleme früh erkennen und entsprechend handeln.

Volksabstimmung ist möglich

Mittlerweile ging der indirekte Gegenvorschlag durch beide Kammern. Der Ständerat formulierte den Gegenvorschlag um. Zum einen verwendete er eine «Kann»-Formulierung, was die Verpflichtung der Kantone zur Ausbildungsunterstützung angeht. Statt 469 solle ein Betrag von 369 Millionen Franken gesprochen werden.

Der Nationalrat kritisierte diese «Verschlechterungen» jedoch und bestand mit 114 zu 79 Stimmen auf dem ursprünglichen Gegenvorschlag. Nun kommt es in der Wintersession zur Differenzbereinigung. Wird man sich nicht einig, kommt es zur Einigungskonferenz von Delegierten aus dem National- und Ständerat. Der verbesserte indirekte Gegenvorschlag tritt in Kraft, wenn das Initiativkomitee die Initiaitve zurückzieht. Erachtet das Komitee den verabschiedeten Gegenvorschlag als ungenügend, könnte es 2021 zu einer Volksabstimmung kommen.

Liridona Dizdari geht der indirekte Gegenvorschlag zu wenig weit. Viele Anliegen der Pflege würden darin nicht berücksichtigt. «Aber wir müssen jetzt handeln, um zukünftig eine gute Pflege zu ermöglichen. Wenn wir eine qualitativ hochstehende Gesundheitsversorgung möchten, dann ist es unerlässlich, zu investieren.»

Info

Protestwoche des «Service public»

Am 23. September, 27. Oktober und 1. Dezember machen Pflegende mit dem «Walk of Care» auf ihre Anliegen aufmerksam. Der Lauf durch die Stadt Luzern startet um 17 Uhr auf dem Mühleplatz und endet circa um 18 Uhr auf dem Löwenplatz. Die Aktion ist offen für Pflegepersonen sowie auch für Personen, die das Engagement unterstützen. Es gilt die Maskenpflicht.

In Bern organisieren die Verbände SBK, VPOD (Gewerkschaft für Service public) und SYNA (Gewerkschaft für die Sektoren Industrie, Gewerbe und Dienstleistung) vom 26. bis 31. Oktober eine Protestwoche mit einer Aktion auf dem Bundesplatz. Zusammen wollen sie für bessere Arbeitsbedingungen für das Gesundheitspersonal und für die «längst überfällige» Aufwertung der Gesundheitsberufe einstehen.


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