Sara Muff arbeitet als Diplomierte Pflegefachfrau im SPZ Nottwil an vorderster Front mit. (Foto Archiv/Thomas Stillhart)
Sara Muff arbeitet als Diplomierte Pflegefachfrau im SPZ Nottwil an vorderster Front mit. (Foto Archiv/Thomas Stillhart)
01.04.2020

«Wir können nicht einfach streiken»

von Livia Kurmann

Das Pflegepersonal ist in Zeiten des Coronavirus noch mehr gefordert als sonst. Sara Muff, SP-Kantonsrätin und Diplomierte Pflegefachfrau im SPZ Nottwil schätzt die Wertschätzung, die ihnen derzeit entgegengebracht wird. Klatschen und Danke sagen, reichten aber nicht.

Sara Muff, wie arbeitet es sich zurzeit in der Pflege?

In Luzern ist es momentan noch nicht so schlimm wie im Tessin oder der Westschweiz. Dennoch merkt man, die Leute sind angespannt. Für mich fühlt es sich an, wie die Ruhe vor dem Sturm. Aber wir haben die Notfallszenarien durchgeplant, wir sind ausgerüstet, wir sind parat.

Kürzlich setzte der Bundesrat die gesetzlichen Arbeits- und Ruhezeiten für Pflegepersonal ausser Kraft. Spitalpersonal kann neu auch mehr als 60 Stunden pro Woche eingesetzt werden. Wie haben Sie das als Diplomierte Pflegefachfrau aufgenommen?

Mich machte besonders wütend, dass die Pflege seit Jahren vor dieser Situation warnt. Wir warnten, dass uns bis 2030 65'000 Pflegende fehlen werden. Es ist nicht so, dass es diesen Fachkräftemangel erst seit der Pandemie gibt. Und jetzt wo es hart auf hart kommt, hebelt der Bund die Bestimmungen aus und wir sind es, die es ausbaden müssen. Für uns ist klar, das wir bei einem Notfall zur Stelle sind und auch Überzeit machen werden. Ich hätte mir jedoch gewünscht, dass man uns schon früher zugehört hätte, dann hätte diese Massnahme vielleicht verhindert werden können.

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« Die Gesundheit ist das wertvollste Gut, das wir haben als Menschen. Das darf uns auch etwas kosten.»
Sara Muff

Kurz davor wurde noch auf den Balkonen für sie und ihre Kolleginnen geklatscht…

Das war eine schöne Aktion. Der Applaus galt ja nicht nur uns, sondern auch den Reinigungskräften, den LKW-Fahrern, den Bäuerinnen, den Leuten, die Tag für Tag in den Läden stehen und die Pandemie direkt spüren. In diesem Moment hatte ich Gänsehaut. Aber ich muss auch sagen, mein Arbeitsalltag im Spital ändert sich dadurch nicht. Und gerade da müssen später Taten folgen. Wir hoffen darauf, dass das Einfluss auf die Pflegeinitiative hat, die bald vors Volk kommt. Dass nicht nur geklatscht wird, sondern dass wir in Zukunft ernst genommen werden mit unseren Anliegen und Sorgen. Die Gesundheit ist das wertvollste Gut, das wir haben als Menschen. Das darf uns auch etwas kosten.

Mit der Pflegeinitiative kämpft der Schweizerische Berufsverband für Pflege (SBK) schon lange gegen den Pflegenotstand. Gibt die Corona-Krise neuen Aufwind?

Ich glaube schon. Ich denke das ist ein Anliegen das grundsätzlich breit abgestützt ist in der Bevölkerung. Ich war damals selber auf der Strasse um Unterschriften zu sammeln. Fast jeder hat jemanden im Umfeld, der auf Pflege angewiesen ist. Und jeder möchte sich selber und seine Angehörigen gut gepflegt und in Sicherheit wissen. Durch die Pandemie wird uns nochmal mehr bewusst, wie elementar ein funktionierendes Gesundheitssystem ist.

Bisher hatte es die Pflegeinitiative schwer. Man sprach sich einerseits dafür aus, Massnahmen gegen den Fachkräftemangel zu treffen, klammerte dabei aber die restlichen Forderungen der Pflege aus. Unter anderem weil diese höhere Gesundheitskosten zur Folge hätten.

Care-Arbeit ist kein Luxusprodukt, sondern ein wichtiger gesellschaftlicher Wert, eine Notwendigkeit. Es erklärt sich eigentlich von alleine, dass Care-Arbeit keinen grossen Profit abwerfen muss. Trotzdem ist das ökonomische Denken immer präsenter im Spitalalltag. Zum Beispiel die Frage, ob sich der Personalschlüssel weiter kürzen lässt. Für uns ist die traurige Konsequenz, dass wir uns um noch mehr Patienten kümmern müssen. Es gibt Tage, da geht das gut und dann gibt es Tage, da ‘räbblet’ es. Da kommt der Aspekt der Sicherheit hinzu. Auch wir haben nur zwei Hände und ein Hirn.

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«Menschen können nicht gezwungen werden, eine Ausbildung in einem Pflegeberuf zu absolvieren. Es kann sich daher nicht von heute auf morgen alles ändern.»
Sara Muff

Es wird verlangt, dass sie mehr Arbeit leisten, aber mit gleichviel Personal …

Genau. Wir fordern deshalb, dass ein Maximum an Patienten festgelegt wird, für die man zuständig ist. Als Diplomierte Pflegefachfrau bin ich verantwortlich für die Fachfrauen Gesundheit und die Auszubildenden. Ich übernehme bei ihren Patienten die Aufgaben, für die ihnen die Kompetenzen fehlen. Die Hauptverantwortung trage immer noch ich. Wenn ich vier Patienten betreue, die Fachfrau Gesundheit drei, dann habe ich am Ende die Verantwortung für sieben Patienten. Da ist es nicht immer einfach, den Überblick zu behalten, gerade bei Akutsituationen. Wenn wir den Personalschlüssel höher ansetzten würden, wäre allen geholfen.

Schon lange fordert der SBK Massnahmen um mehr Diplomiertes Personal auszubilden. In den letzten fünf Jahren wurden nur 43 Prozent des errechneten Bedarfs ausgebildet. Wird zu wenig unternommen?

Menschen können nicht gezwungen werden, eine Ausbildung in einem Pflegeberuf zu absolvieren. Es kann sich daher nicht von heute auf morgen alles ändern. Deshalb hätte man anfangen sollen, als die Forderungen das erste Mal gestellt wurden. Zum einen muss die Entlöhnung besser werden. Als ich damals die Höhere Fachschule machte, bekam ich 1000 Franken im Monat und ich trug bereits viel Verantwortung. Alleinerziehende Mütter, die mit mir die HF-Ausbildung machten, mussten sich beim Spital verpflichten, damit sie einen höheren Lohn bekommen. Das ist ein zusätzlicher Druck. Denn wenn man nicht besteht, muss man die Ausbildungskosten zurückzahlen. Viele sagen sich deshalb im Vorhinein schon: dann lasse ich es halt.

2400 Pflegefachpersonen pro Jahr geben ihren Beruf auf. Viele sind unter 35 Jahre alt. Wo gibt es Verbesserungspotenzial?

Zum einen muss man die Arbeitsbedingungen verbessern. Wie bereits erwähnt, indem man ein Maximum an Patienten festlegt, für welche eine Pflegefachperson zuständig ist. Der Pflegeberuf ist ein schöner Beruf, kann aber physisch und psychisch anstrengend sein. Die Pflegenden müssen besser geschützt werden. Die Ansprüche sind gestiegen. Wir sind nicht mehr «nur» Pflegende. Wir führen oft Dienstleistungen im Bereich Service/Hotellerie aus. Auch mit der Digitalisierung steigen die Anforderungen. Gerade für ältere Pflegende, die viel Erfahrung mitbringen, ist es nicht immer einfach, Schritt zu halten.

«Gemäss Bundesamt für Statistik arbeiten im Gesundheitswesen zu 82 Prozent Frauen. Doch gerade in diesen Sektoren fehlt die Anerkennung und der Lohn, hier besteht Nachholbedarf.»
  

Und nebst dem Personalschlüssel?

Zentral ist auch die Dienstplanung. In den meisten Spitälern arbeitet man im Drei-Schichten-Betrieb. Wenn ich dann einen Spätdienst und am nächsten Tag einen Frühdienst habe, ist das streng. Ich habe einen guten Arbeitgeber, da habe ich das Problem weniger. Aber ich höre von Kolleginnen, die mehrmals im Monat so geplant sind. Es ist auch wichtig, dass die Betreuungsangebote für die Kinder optimiert werden. Oft entscheiden sich die Männer in Vollzeitpensen zu arbeiten, weil die Löhne in den typischen von Männern dominierten Berufen nach wie vor höher sind. Die Frauen bleiben entweder ganz zu Hause oder arbeiten in einem tiefen Pensum. Wenn man die Kinderbetreuung optimieren und die Löhne erhöhen würde – in den typischen Frauenberufen – könnte ein wichtiger Schritt Richtung Gleichstellung gemacht werden.

Die Corona-Krise bringt also auch eine feministische Thematik aufs Tapet?

Ganz klar. Viele Berufe der Grundversorgung werden mehrheitlich von Frauen ausgeübt, gerade im Care-Sektor, aber auch im Detailhandel. Gemäss Bundesamt für Statistik arbeiten im Gesundheitswesen zu 82 Prozent Frauen. Doch gerade in diesen Sektoren fehlt die Anerkennung und der Lohn, hier besteht Nachholbedarf. Dies ist nur eine Kurzfassung, wieso diese Pandemie auch feministische Themen beleuchtet.

Zugespitzt formuliert: Würde ein Mann mehr für seine Rechte einstehen?

Das glaube ich nicht. Es arbeiten ja auch Männer in der Pflege. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie aufmüpfiger sind. Mir ist aber am Frauenstreik stark aufgefallen, dass wir nicht einfach sagen können: wir sind dann mal einen Tag weg. Für unsere Patienten hätte das schlimme Konsequenzen. Das ist das Problem. Wir können nicht einfach so streiken.

«Wenn das Material knapp wird, haben wir ein echtes Problem. Denn wir können nicht einfach sagen, wir pflegen nicht mehr. »
  

Eine neue Petition der Gewerkschaft für Service Public fordert eine Gefahrenzulage für Spitalpersonal. Haben Sie unterschrieben?

Ja, hab ich. Grundsätzlich müsste man sich aber auch hinterfragen, warum ein Banker der Credit Suisse so viel mehr Geld verdient als zum Beispiel das Gesundheitspersonal, welches oft jahrelanges Studium hinter sich bringen musste. Ich frage mich dann, was macht diesen Menschen so viel wertvoller als mich?

Hast du keine Angst dich anzustecken?

Angst nicht. Respekt ist aber da. Zum einen ist es ein neues Virus, das wir noch nicht gut kennen und noch keine Behandlungsmethoden dagegen haben. Was dazu kommt, ist der Mangel an Schutzmaterial. Wir wissen nicht wie lange die Situation andauert, wann die Spitze kommt und vor allem wie. Wenn das Material knapp wird, haben wir ein echtes Problem. Denn wir können nicht einfach sagen, wir pflegen nicht mehr.

Wie lange dauert die Corona-Krise noch?

Das ist eine gute Frage. Ich wünschte, ich hätte eine Antwort. Eine Kollegin sagte neulich zu mir, für sie sei das Ganze wie der erste Flug zum Mond: Im Moment haben wir noch keine Ahnung. In drei Monaten können wir sagen, wir waren da, haben die Fahne aufgestellt und wissen, wie es da oben ist.

Was möchtest du der Bevölkerung noch mitteilen?

Ich wünsche mir, dass die Leute zuhause bleiben. Ich weiss, es ist schwierig. Aber wir alle wollen einen Sommer, indem wir uns am Sempachersee treffen oder unsere Grosseltern besuchen können. Bleiben wir zu Hause aus Solidarität zu den Menschen, die auf ein funktionierendes Gesundheitswesen angewiesen sind. Wir können das Virus so bremsen und verhindern, dass das Gesundheitssystem kollabiert.


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