29.04.2022

«Wir können hier sehr viel bewirken»

von PD

Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung in Nottwil nahm in Wolka Cycowska an der polnisch-ukrainischen Grenze ein «Safe House» in Betrieb. Querschnittgelähmte Flüchlinge finden dort einen Zufluchtsort. Die Leitung vor Ort hat seit drei Wochen die erfahrene SPZ-Pflegefachfrau Sara Muff aus Sursee. 

Sara Muff, was motiviert Sie zur Arbeit im Safe House im polnischen Wolka Cycowska – 30 km entfernt von der ukrainischen Grenze?


Mir war sofort klar, dass ich für diese Aufgabe zusage. Unser Leben in der Schweiz ist so privilegiert und wir haben ein so gutes Bildungssystem. Zudem herrscht bei uns Frieden. Da sehe ich mich in der Pflicht, etwas weiterzugeben. Mit meiner Erfahrung aus Nottwil kann ich hier sehr viel bewirken – auch wenn es nur ein Tropfen auf den heissen Stein ist.

Welche Hilfe wird benötigt?


Die Flüchtlinge waren oft tagelang unterwegs; sie haben Druckstellen vom langen Sitzen im Rollstuhl oder leiden an Harnwegsinfekten. Viele mussten ihre Behandlung im Krieg abbrechen. Teilweise fand keine gute Erstversorgung nach einer frischen Querschnittlähmung statt. Wir unterstützen die Betroffenen pflegerisch und medizinisch, aber auch, indem wir eine Atmosphäre schaffen, in der sie sich willkommen fühlen. Manchmal reicht es, einfach da zu sein und zuzuhören.

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Wie lange bleiben die Flüchtlinge?


Das ist unterschiedlich. Einige möchten in Polen bleiben und sofort zurück, wenn der Krieg vorbei ist. Andere möchten zu Bekannten nach Europa und wir organisieren die Transporte. Wir klären auch ab, wer eine medizinische Behandlung benötigt. In dringenden Fällen sorgen wir für einen Transport ins Schweizer Paraplegiker-Zentrum nach Nottwil.

Wie sieht Ihr typischer Tag aus?


Jeder Tag ist anders. Heute half ich einem Tetraplegiker beim Duschen und beim Blasen- und Darmmanagement. Dann war viel Administratives zu erledigen und ich gab dem Personal Tipps für die Pflege. Es gab mehrere Abklärungen, ich wechselte Verbände und führte Gespräche mit den Flüchtlingen. Sie zeigten mir Bilder von ihren zerbombten Häusern und Städten. Am Abend mache ich den Grosseinkauf für den nächsten Tag. Manchmal zeichnen wir noch zusammen. Teilweise fehlen den Flüchtlingen Dokumente für die Weiterreise oder Betroffene schaffen es nachts überraschend über die Grenze – dann bin ich um 01.30 Uhr noch wach …

Was schildern die Flüchtlinge?


Sie erzählen von der Flucht; wen sie zurücklassen mussten und welche Personen tot sind. Sie sprechen auch medizinische Themen an oder wollen einfach ein Alltagsgespräch führen. Ich finde es schön, dass sie mir so viel anvertrauen. Eine Zwanzigjährige schilderte, wie ihr gesagt wurde, ihr totgeglaubter Freund sei nicht unter den Gefallenen und gelte als verschollen. Seither versucht sie ständig, ihn zu erreichen. Es ist so schlimm – wir haben beide geweint. Eine Mutter erzählte, wie ihre Familie im Fluchtkorridor aus Mariupol im Auto beschossen wurde. Eine junge Frau schilderte mir, dass sie zusammen mit ihrer 83-jährigen Grossmutter einen Monat im zerbombten Mariupol ausharren musste, bis sie endlich fliehen konnte. Der Schock sitzt noch tief. Es sind berührende Geschichten. Diese Menschen stehen vor der absoluten Ungewissheit.

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Wie kommunizieren Sie?


Oft nutzen wir «SayHi». Ich spreche einen Satz auf Deutsch und die App übersetzt in die gewünschte Sprache. Meistens klappt es gut, aber es kommen auch kreuzfalsche Übersetzungen heraus. Dann können sogar wir kurz zusammen lachen.

Wie lange bleibt dieses Safe House?


Ich hoffe fest, dass es so lange bestehen kann, wie es gebraucht wird. Dieser Ort ist für Menschen mit Querschnittlähmung enorm wichtig.


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